"Unklare Signale und Unentschlossenheit stellen für den Frieden ebenso eine Gefahr dar wie exzessive Aggressivität"

Zum 100. Jahrestag des Endes des Ersten Weltkrieges: Historiker Christopher Clark benennt als Gast der Leipziger Sparkassenstiftungen Einsichten aus der Entstehung des Ersten Weltkrieges für Europas Gegenwart

Umfangreiches Medienpaket auf der Internetseite der Medienstiftung verfügbar

Leipzig, der 7. November 2018. Der australische Historiker Prof. Dr. Sir Christopher Clark sieht zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen der Situation vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und der heutigen Verfasstheit der westlichen Welt. Dies geht aus seiner Keynote „Schlafwandelnd in den Untergang“ hervor, die er Ende Oktober auf dem Symposium „Schicksalsgemeinschaft – Europas Zukunft 100 Jahre nach dem ersten Weltkriegsende“ der Leipziger Sparkassenstiftungen vorgetragen hat. Zugleich warnte er vor direkter Analogiebildung zwischen Vergangenheit und Gegenwart: „Die Politiker lieben es, Eins-zu-eins-Gleichungen festzustellen: Saddam Hussein gleicht Adolf Hitler, die Ukrainekrise ist München 1938 oder gar Europa im Sommer 1914.“ Dabei handele es sich „meistens nur um mutwillige Aktualisierungen“, so Clark: „Sie wirken moralisierend und propagandistisch, bringen aber keinen wirklichen Erkenntnisgewinn.“ Geschichte, so Clark in Leipzig, sei keine Lehrerin, sondern ein Orakel.

Aus seiner Beschäftigung mit der Entstehung des Ersten Weltkrieges habe er eine Reihe von Einsichten für die Gegenwart gewonnen. „Wenn wir uns die Geschichte anschauen, ohne vorher zu wissen, was wir von ihr lernen wollen, kann sie unser Blickfeld erweitern, unsere Reflexionen vertiefen, uns weiser machen, als wir ohne sie wären. Wer das tut, wird vielleicht die gefährlichsten Zwangssituationen vorher erkennen oder ihnen sogar entkommen. So jedenfalls meine Hoffnung“, so Clark beim Symposium „Schicksalsgemeinschaft“.

Am historischen Symposium der Leipziger Sparkassenstiftungen, das sich der Frage stellte, welche Erkenntnisse Europa aus seiner Vergangenheit ziehen könne, hatten neben Sir Christopher Clark auch der deutsche Historiker Prof. Dr. Sönke Neitzel, der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Herfried Münkler sowie als Zeitzeugen Walburga Gräfin Douglas und der Politiker und Jurist Konrad Adenauer teilgenommen. 200 Gäste aus Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Medien nahmen daran teil. (Eine umfangreiche Dokumentation der Veranstaltung „Schicksalsgemeinschaft“ sowie ein Medienpaket finden Sie hier).

Vier Einsichten für die heutige Zeit benannte Clark in seiner Keynote:

Erstens: „Die Tatsache, dass eine Krise ohne Krieg wieder abebbt, ist an Sicht kein Grund zu glauben, dass die nächste ebenso ungefährlich ausgehen wird.“

Vor dem Ersten Weltkrieg habe es eine lange Folge von Krisen, dabei aber auch immer wieder Phasen der Entspannung gegeben – Polarisierung und Entspannung hätten sich abgewechselt.

Dies habe für eine Abstumpfung bei den Zeitgenossen gesorgt: „Die Staatsmänner wähnten sich sicher und unterschätzten die mit ihrem Handeln einhergehenden Risiken.“ Eine ähnliche Phase erkennt der Historiker auch heute, seit 1990 hätten zahlreiche Krisen „Europa und die Welt durchgeschüttelt.“

Zweitens: „Die Verhältnisse innerhalb von Bündnissen sind mindestens genauso wichtig wie die Beziehungen zwischen ihnen.“

In der Vorkriegszeit habe sowohl zwischen den Partnern der Entente aus Frankreich, Vereinigtem Königreich und Russland als auch im Dreibund aus Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien ein stetiges Misstrauen über die Verlässlichkeit und die Absichten der Bündnispartner geherrscht: „Angesichts dieser inneren Schwäche der Allianzen hatten viele Entscheidungsträger das Gefühl, die Zeit läuft aus. Sie handelten unter Zeitdruck und das setzte sie alle unter Handlungsdruck“, so Clark. Auch hier erkennt er Parallelen zu aktuellen Entwicklungen: „Die derzeitige Führung des Weißen Hauses hat es geschafft, viele ihrer traditionellen Partner zu entfremden.“ US-Präsident Trump betrachte die EU als Feind und äußere Zweifel am US-Engagement für die NATO: „Ein Vertrauenskollaps innerhalb der NATO würde aber keineswegs die Gefahr eines Krieges vermindern, ganz im Gegenteil: Er würde die Intransparenz und Unberechenbarkeit des Systems wesentlich erhöhen“, sagte Clark.

Drittens: „Es gibt keine Peripherien.“

Am Beispiel des italienischen Angriffs von 1911 auf die osmanische Provinz im heutigen Libyen verdeutlichte Clark in Leipzig, wie ein scheinbar peripheres Schlachtfeld zu zahlreichen geopolitischen Machtverschiebungen führte. Regionale Konflikte ließen sich nicht eindämmen. „Exakt hundert Jahre nach diesem Konflikt fielen wieder Bomben auf libysche Städte.“ Die NATO intervenierte mit Luftangriffen im Libyen-Konflikt, der damalige russische Ministerpräsident und jetzige Präsident Wladimir Putin bezeichnete das Eingreifen der NATO als einen „Kreuzzug“. Clark: „In beiden Fällen galt Libyen als ein Ort an der Peripherie, wo man meinte handeln zu können, ohne lange über die Konsequenzen nachdenken zu müssen. Sowohl im Jahre 1911 wie auch im Jahre 2011 schlugen die Ereignisse dort direkt auf das Verhältnis zwischen den großen Mächten zurück.“

Viertens: „Unklare Signale und Unentschlossenheit stellen für den Frieden ebenso eine Gefahr dar wie exzessive Aggressivität.“

In der Zeit vor 1914 seien „undurchsichtige und oft chaotische Prozesse der Entscheidungsfindung in allen europäischen Exekutiven“ auffällig gewesen: „Damals herrschte eine Unsicherheit (und unter den Historikern gibt es die noch immer), wer innerhalb der verschiedenen Regierungsbehörden denn genau die Macht hatte, den politischen Kurs zu bestimmen.“ Statt einer einheitlichen außenpolitischen Linie hätte es einen Chor widersprüchlicher Stimmen gegeben: „Ist das heute so sehr anders?“ fragt Clark und verweist auf den Umgang der westlichen Regierungen mit der Ukraine: „Das Ergebnis war eine doppelbödige und substanzlose Politik, die in Russland einerseits provozierend wirkte, ohne andererseits für die westlichen Staaten einzeln oder als Kollektivität jemals die Basis für einen klaren und konsensfähigen Kurs schaffen zu können.“

Hinweis für die Medien:

Eine Audiodatei sowie ein Transkript der Keynote von Sir Christopher Clark steht Ihnen hier zur Verfügung. Auszugsweises Zitieren und Verweise sind unter Benennung der Quelle sowie der Urheber zulässig.

Darüber hinaus stellen wir Ihnen im Medienpaket zur Verfügung:

  • Einen ausführlichen atmosphärischen Print-Report „Geschichte ist keine Lehrerin, Geschichte ist ein Orakel: Sie kann uns weiser machen“. Das Ende des I. Weltkrieges und der Untergang des „alten Europa“
    mit zahlreichen O-Tönen und Stimmen von der Veranstaltung „Schicksalsgemeinschaft“
  • Vortrag Prof. Dr. Sönke Neitzel „Der II. Weltkrieg im europäischen Gedächtnis“ (Audiomitschnitt)
    Die besondere Kriegserfahrung der (Kontinental)-Europäer und die Nachwirkungen bis in die heutige Zeit.
  • Vortrag Konrad Adenauer „Wie aus Feinden Freunde wurden – Die Deutsch-Französische Aussöhnung“ (Audiomitschnitt und Manuskript)
    Die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland als symbolisches Beispiel und Vorbild für ein in Freiheit und Frieden geeintes Europa.
  • Vortrag Walburga Gräfin Douglas „Das erste Loch im ‚Eisernen Vorhang‘ – Das Ende der Teilung Europas“ (Audiomitschnitt und Manuskript)
    Die Umbruchsituation von 1989 am Beispiel des „Paneuropäischen Picknicks“ in Sopron, Vorzeichen der Götterdämmerung des sozialistischen Blocks in Europa.
  • Vortrag Prof. Dr. Herfried Münkler „Neue alte Kriege – Die Überlagerung von innergesellschaftlichem und zwischengesellschaftlichem Krieg“ (Audiomitschnitt und Manuskript)
    In der gegenwärtigen Situation nach dem Umbruch von 1989 ist der Krieg – anders als erwartet – nicht verschwunden, sondern es kommt zu einem bemerkenswerten Rückfall in Konstellationen, die denen des 30-jährigen Krieges ähnlich sind.
  • Bildmaterial und Kurzbiografien der Referenten

Pressemitteilungen zur Veranstaltung „Schicksalsgemeinschaft“ inklusive Bildmaterial